WEGMARKEN – POESIE DER STRUKTUR

 

Einen Bilderzyklus zu beschreiben, gleicht einer Reise zu neuen Wegmarken. Nina Stoeltings jüngste Werkgruppe verbindet Historie und Gegenwart der Metropole Berlin. Mit ihrer individuell definierten Technik der Frottage spürt sie der Identität der Stadt nach, deren Zeichen und Spuren zum künstlerischen Impetus werden. Sich vor Ort Einfühlen ist dabei kein esoterischer Prozess, vielmehr Akt von taktiler Sensität. Bei der Wahl des bildtragenden Materials der Frottage greift die Künstlerin auf ein hauchzartes Gewebe zurück, den Musselin, welcher ihr eine mimetische Schilderung der unterschiedlichsten vorgefundenen und selektierten Momente und Texturen ermöglicht. Mit langjähriger Erfahrung im Medium Zeichnung und der klassischen Lithografie hat Nina Stoelting sich eine kognitive Intuition für die grafische Qualität von Struktur erarbeitet.

 

Würde man nun vermuten, das homogene Formate und Auswahl des künstlerischen Materials auch eine identische oder zumindest ähnliche Aussage oder Aura der Rubbings bedingt, ist man auf dem falschen Weg. So höchst unterschiedlich Berlin schon an der nächsten Ecke sein kann, so intensiv wie auch divergent sie Identität verkörpert, genauso facettenreich spiegeln Nina Stoeltings Bilder Formen, Zeichen und Strukturen aus dem Stadtraum der Metropole.

 

Doch bevor sie das Gewebe für einen Moment über dem Boden schweben und landen lässt oder mit dem zarten Stoff eine Balustrade erklimmt, um das Tuch dort zu fixieren, steht der Prozess des konzeptuellen, künstlerischen Transfers von Bild und Abbild.

 

Nina Stoelting grenzt aus einer in situ Situation ein Motiv zuerst rein visuell ab, isoliert es aus seinem Kontext und bedeckt es erst dann mit Musselin, um über einen Zeitraum von mehreren Stunden das Relief auf den Stoff zu übertragen. Jede Textur verlangt dabei die Einlassung auf ihre Beschaffenheit. Unterschiedlicher Kraftaufwand, Präzision, Kontur oder eher wolkige Stofflichkeit werden frei von Hand nuanciert. Das sprichwörtliche Fingerspitzengefühl wird zu einem intensiven handwerklichen Prozess, oft auch zur Herausforderung an die Physis der Künstlerin.

 

Das Resultat sind Essenzen eines Kontexts. Manche Orte erfahren in der Frottage eine Umdeutung, andere Frottagen des Zyklus´ werden zu einem visuellen Initial über Orte zu reflektieren.

 

Mehrfach sind es Fassaden, Bauskulpturen oder Details von Monumenten, die Stoeltings künstlerisches Interesse evozieren. Abgleichend mit dem Werdegang der Künstlerin hat sich diese Affinität bereits mit dem Studium der Architektur entwickelt, noch bevor sie sich ausschließlich der Bildenden Kunst zugewandt hat.

 

Bereits in den 1990er Jahren, kurz nach dem Mauerfall, weckten die zuvor zwischen Ost und West gesperrten Straßenzüge das Interesse von Künstlern, in alten Strassenbelägen den Analogien von Zerstörung und Verletzung mittels Frottagen nachzuspüren. Auch Andreas von Weizsäcker mahnt in seinen Frottagen von den bleibenden Folgen von Krieg und Zerstörung, sichtbar in Fassaden die von Kriegseinschüssen gezeichnet sind sowie Bäumen mit verzweifelten Nachrichten von Zwangsarbeitern im Dritten Reich.

 

Davon grenzt sich Nina Stoelting nicht völlig ab, gehört aber zu einer jüngeren Generation, die einen anderen Zugang der Reflexion findet. Sie verbindet solche historischen Orte mit einer optimistischen Haltung, der Erwartung an eine Zukunft, die bereit ist, aus der Vergangenheit zu lernen. Die Arbeit Toleranzgasse zeigt dies auf sensible und zugleich beeindruckende Weise. Die tatsächlich so benannte Straße befindet sich in Mitte und liegt zwischen einer katholischen Kirche, einem evangelischen Krankenhaus und einer Synagoge. Zahlreiche Stolpersteine des Künstlers Günther Demning verweisen auf die ausgelöschten Existenzen jüdischer Mitbürger an diesem Ort. An einer Stelle bilden die Steine eine räumliche Anordnung, in der eine Metapher für die Koexistenz unterschiedlicher Kulturen und Religionen gesehen werden kann. Die Steine sind in einer bewegten, nicht streng-geometrischen Formation, sondern frei angeordnet, flankiert und geschützt von mächtigen Steinplatten von einer Seite und einer aufgelockerten Anordnung von Kleinpflaster gegenüber. Erst in Stoeltings mimetischer Übertragung auf Musselin entwickelt sich die Autonomie dieser Bildaussage, charakterisieren sich die unterschiedliche Beschaffenheiten der Steine, sie offenbaren eine sonst nicht sichtbare Struktur. Das trifft besonders auf die Stolpersteine in Bronze zu. Ihre Oberfläche ist sehr glatt, die Namen der Opfer sind sichtbar, nicht unbedingt vollständig lesbar, dennoch unauslöschbar in der zarten Aura ihres Abbildes in Graphit. So unterschiedlich Strukturen und Steine sind, im formalen Zusammenhang entsteht durch das taktile Empfinden der Künstlerin eine Lesbarkeit, die sich mit dem Abtasten der Braille Schrift vergleichen lässt. Unsere Wahrnehmung und ein uns innewohnendes, gespeichertes Bewusstsein hinterfragt Nina Stoelting in einem Werk, dessen Relief sie einem Denkmal abnimmt. Es zeigt im Sockelbereich Soldaten im Gleichschritt. Die Ästhetik, die in Stoeltings Frottage entsteht, ist fast Icon-haft und löst ein Gefühl des Widerwillens gegen jegliche Form von Gleichschritt und Gleichschaltung beim Betrachter aus. Das Stereotyp der Form hat vordergründig eine formale Attraktivität, der zugleich eine beängstigende Aussage inne ist.

 

In der Kulturgeschichte der Frottage war es Max Ernst, der diese Technik zu neuem Leben erweckt hat mit seiner eigenen, künstlerischen Inszenierung von Strukturen. Bei Kunst der Nouveau Realistes ist es Henri Michaux, der unter Einfluss von Mescaline seine Affinität zu dem Medium auslebte, mehr ein privater Akt der Extase zur Er-Findung seiner Abstraktionen. Heinz Mack wiederum verwendete Frottagen, um den Phänomen von Licht und Struktur näher zu kommen. Das Medium selbst ist schon Kindern zugänglich, aber erst in einem klar definierten künstlerischen Konzept entwickeln sich außergewöhnliche Bildfindungen und die einzigartigen Möglichkeiten der Frottage als Ausdrucksform.

 

Bisher sind bei Frottagen schon immer Fotografien der Situation der/des Künstler/in in situ zur Dokumentation entstanden. Das Selbstverständnis jüngerer, zeitgenössischer Künstler ist von SelfieKultur und Social Media geprägt. Fotografien des Live Acts werden als Dokumentation der Performance in situ als Phänomen ephemerer Erlebniskultur im making of beinahe zu einem Teil der künstlerischen Arbeit. Bei dem hier beschriebenen Werkblock sind es Zufall und die Künstlerin, die einen Anonymus zum Fotografen bestimmen; er übernimmt die Rolle des Chronisten und wird damit auch aus einem Gesamtkontext hervorgehoben, auserwählt, wie der Ort durch die Künstlerin. Ein Stück des Aeternums von Kunst wird ihm zu eigen, nur ohne Nennung des Urhebers der Dokumentationsfotos. Verändert hat sich in dieser Künstlergeneration auch die Zeit und Raum Korrelation in der Entstehung der Arbeiten. Man könnte das als eine „fast forward“ Haltung der modernen Nomadengesellschaft interpretieren, die auch die aktuelle Kunst in ihrer Herangehensweise verändert hat. Das Verharren und Vertiefen vor Ort, auf der Stelle zu stehen, bis nichts mehr im Verborgenen bleibt, ist eher passé.

 

Es sind prägnante Motive, wenn Nina Stoelting sie auf Musselin gebannt hat. Nach der Metamorphose zum Bild erscheinen manche Motive in fast sakraler Anmutung und wecken Assoziationen zu christlichen Reliquien, beispielsweise dem Schweißtuch der Veronika.

 

Ein gänzlich anderes Thema ist das objet trouvé Kanaldeckel. Schon Timm Ulrichs thematisierte solch ein Objekt in der Konzeptkunst der 70er Jahre, welches er entdeckt, bekniet, abgepaust und in Seriegrafien verewigt hat. Nina Stoeltings Zugang zur Unterwelt ist als Abschluss dieses prosaischen Werkzyklus zu sehen, der Kreis als ein formales Zitat der Ganzheitlichkeit, in dem sich viele der erfahren Orte der Metropole als Icon abbilden. Es schließt sich somit der Kreis zu dem Ursprung der Frottage, den wir in der Reproduktionsabsicht der Schriften von Konfizius finden. Das Lesbare abtasten und abbilden, um für die Verbreitung der Worte und Inhalte zu sorgen.

 

In seinen Worten findet sich bereits eine elementare Aussage zum Konzept von Nina Stoelting:

 

Zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man tut, das ist Wissen.

Konfuzius 551479 v. Chr.

 


Angela Cerny