Die weichen Brüste werden von zarter Rinde umschlossen,
die Haare werden zu Laub, die Arme wachsen als Äste;
schon wird der flinke Fuß von trägen Wurzeln gehalten,
ein Wipfel verbirgt das Gesicht: Der Glanz allein bleibt ihr.

(Ovid, Metamorphosen Buch 1, Vers 545–555)

 

 

EWIG NEUES GESTALTEN

ZU DEN AKTUELLEN WALDARBEITEN IM WERK VON NINA STOELTING

 

Natur! ...Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder - alles ist neu, und doch immer das Alte.“1 Diese zum Aphorismus geronnene Erkenntnis im Essay Die Natur, um 1782 verfasst, wird vielfach Johann Wolfgang von Goethe zugeschrieben. Dagegen äußert der Dichter und Naturforscher zur ihm angedichteten Urheberschaft: „Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch zwar nicht erinnern, allein sie stimmen mit den Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte.“2

Verzweigte Naturbetrachtung bestimmt sein Leben von Anfang an: Zu Goethes Geburt war von seinem Großvater ein Birnbaum gepflanzt worden, dem zu seinem 75. Geburtstag eine Linde folgte.3 Indes hat als Autor des Essays wohl der Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Georg Christoph Tobler zu gelten, geboren 1757 und 1812 gestorben im Kanton Zürich in der Gemeinde Wald. Sie trägt im Wappen drei grüne Tannen mit roten Stämmen.

 

Wald! Das Kunstschaffen von Nina Stoelting gilt der Faszination jener „mit Forstpflanzen bestockten Grundfläche“ (§2 des deutschen Bundeswaldgesetzes), die amtlich als Wald bezeichnet wird, weit über die Wurzel-Wipfel-Achsen, Geäst und Kronen, Lichtungen und Unterholz sowie die deutsche Waldromantik mit allen ihren Unterabteilungen hinaus. Nina Stoelting nähert sich haptisch und holistisch dem Ursymbol des Menschen. Sie interessieren Wesensgrund und die Makrostruktur des Baumes und damit ein zentraler Aspekt der Morphologie. Diesen Begriff soll Goethe in seinem Tagebuch am 25. September 1796 als erster verwendet haben. Seine darauf fußenden Überlegungen wurden vor rund 200 Jahren, von 1817 bis 1824, in der von ihm begründeten Zeitschrift Zur Morphologie publiziert.

 

Paul Klee legt 1903 in einer Radierung eine knochige „Jungfrau“ in einen knorrigen Baum ab. Die Frau ist so nackt wie der Baum entlaubt ist. Verdorrtsein hier wie dort ist das Thema. Klee zeigt den Typus der alten Jungfer, sein Baum ist Metapher. Und das noch in einer weiteren, generalisierenden Hinsicht, bezogen auf das künstlerische Schaffen selbst. In Klees Ausführungen Über die moderne Kunst heißt es: „Wie die Baumkrone sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin sichtbar entfaltet, so geht es auch mit dem Werk.“4 Der Künstler tue „an der ihm zugewiesenen Stelle beim Stamme doch gar nichts anderes, als aus der Tiefe Kommendes zu sammeln und weiterzuleiten. Weder dienen noch herrschen, nur vermitteln“5. Da hört man förmlich den Frühjahrsregen in den Tracheen hüpfen.

 

Kaum eine andere Überzeugung eines Kollegen kann Stoelting so rückhaltlos teilen wie diese. Nina Stoelting reitet durch den Wald, und sie geht in medias res. Es gibt wenige Positionen in der Gegenwartskunst, die den Baum als symbolstarkes, zeichenhaftes und zugleich als ernsthaftes Gegenüber verhandeln. Man muss zurückgehen zu Edvard Munch, um den nicht nur phänotypischen Parallelen zwischen dem bodenständigen Menschenwesen auf der einen und dem buchstäblich tief verwurzelten Sprossachsengebilde auf der anderen Seite nachzuspüren im metaphysischen Raum. In der Gegenwartskunst ist es David Hockney, der ähnlich vorgeht wie Nina Stoelting. Auch der britische Maler erkundet inzwischen - nach seinen Ausflügen in kalifornische Swimmingpools – fortwährend das Naheliegende. Was unmittelbar vor seiner Tür liegt, entdeckte er als fesselndes Motiv: den heimischen Forst, Buchen, Eschen und Ahorn im britischen Yorkshire.

 

Bei Stoelting sind es vornehmlich die Taunusausläufer, die Wälder bei Wiesbaden, ihrer Geburtsstadt. Während Hockney den Wald qietschbunt einkleidet, ihm lustvoll Garderobe überwirft, deren Violett, Gelb-, Orange- und Grüntöne die Natur so kaum hervorbringen würde, geht Stoelting den umgekehrten Weg: Eine eigenwillige Form der Appropriationskunst hat sie ausgeprägt, wobei es nicht Werke von Künstlerkollegen sind, die sie inspirieren, sondern die größte Künstlerin schlechthin. Die Natur. Stoelting eignet sich für ihre Kunst einfach an, was sie sieht.

 

Ihr Ziel ist es, mit künstlerischen Mitteln die Natur der Natur bloßzulegen. Sie ist bestrebt, dem Symbol deutscher Identität und dem Sehnsuchtsmotiv Baum strukturell auf den Grund zu gehen ohne schräge Töne. Waldeinsamkeit und Waldeslust sind insbesondere für die Literatur, explizit die Deutsche Romantik, zentrale Topoi. Nina Stoelting bildet den Wald aber nicht ab, sie bildet den Wald nach. Dabei setzt sie ihn in ein inniges Verhältnis zu ihrer eigenen Person. Fast erscheint Nina Stoelting selbst als Daphne, fortgesetzt auf einem Weg durch transitorisches Gelände und in die Tiefen der Dendrochronologie.

 

Vor fünfzig Jahren etablierte die NATO einen Ausschuss für Umweltfragen. In den 1970er Jahren ergrünte Deutschland. Umweltpolitische Themen veränderten die bundesdeutsche Parteienlandschaft, verstärktes Bewusstsein entstand für natürliche Ressourcen und ihre Endlichkeit. Für Nina Stoelting ist Ressourcenorientierung eine Selbstverständlichkeit und Grün - auch im ökologischen Sinne - die Farbe ihrer Kunst, die entsprechend geerdet ihre "beinahe bunte Palette" entwirft. Sie bricht bald täglich auf ins Grüne. Im Wald entwickelt sie ihre künstlerischen Projekte gedanklich. Stamm und Rinde, Erdboden und Schneisen, Moose und Morast sind Stichwortgeber. Das Wesen des Waldes ihr Lebensthema. Die Bildende Kunst kennt den Wald als Versatzstück, Staffage, Hintergrundfolie. Stoelting geht es von Anfang an um seine Wesensart.

 

Begleitet wird die passionierte Reiterin, Jägerin und Wandersfrau bei ihren einsamen Streifzügen von ihrem Hund. So betrachtet, aber auch wegen der ungeniert eingestandenen Liebe zur heimischen Landschaft, erscheint sie wie eine Schwester im Geiste von Gustave Courbet. Im berühmten Selbstbildnis mit schwarzem Hund präsentiert sich der Wald- und Wellenmaler als Wanderer mit Vierbeiner, innehaltend zum Ausruhen in einer offenen Landschaft. Courbets Heimatrevier war die ostfranzösische Franche-Comté, ehemals landesweit die Region mit dem höchsten Waldanteil. Deren Gewässer, Bodenbeschaffenheit und Bewohner studierte er intensiv, sie ergaben wesentliche Sujets seiner Malerei. Stoelting spricht mit Bezug auf die Wälder, in denen sie ausreitet, und ihre Kunst, die das Resultat der fast täglichen Ausritte und Naturerkundungen ist, von „Strukturen, an denen ich mein Leben abarbeite“6. Sie finden konsequent Eingang in ihre Bildwelt.
Die Werke von Nina Stoelting sind ein existenzialistischer Niederschlag ihres Wesens und ihrer Persönlichkeitsstruktur. Deren Hauptmerkmal ist die elementare Naturverbundenheit, eingebettet in etwas Höheres: „Ich ringe um den Glauben“7, sagt sie. Waldboden und Forst sind Ort physischen Wohlbefindens sowie geistiger Auseinandersetzung. In ihrem Atelier materialisiert sich dieser stumme und gleichwohl beredte Dialog auf außergewöhnliche und unerwartete Weise. Dort liegen Rinden in allen Größen und Formen neben weißen Eimern mit geheimnisvollen Substanzen. Ein wenig ist Stoelting auch eine Alchemistin. Über ihre Ingredienzen verrät sie: „Das weiße Pulver ist gemahlener Marmor, der mit Acrylemulsion gebunden wird.“8 Außerdem arbeitet sie mit mineralischen Strukturpasten. Den Entstehungsprozess eines Bildes fasst sie so zusammen: „Ich schabe nichts heraus, ich baue es auf.“9 Mit groben und feinen Spachteln, Pinseln, Lappen und Fingern moduliert sie die Oberfläche, für ein mittleres Format rund achtzig Stunden ansetzend. Die Wiesbadenerin, die zunächst Architektur studiert hat und 2015 den Hessischen Denkmalschutzpreis erhielt für ein Restaurierungsprojekt, betrachtet den Wald auch als Baumeisterin. In ihrer Kunst baut sie einzelne Aspekte förmlich nach. Vielschichtige, komplexe, an Collagen erinnernde Arbeiten sind Hommage und der Versuch der Annäherung an ein idealtypisches Urbild im Goetheschen Sinne zugleich.

In einer älteren Werkgruppe forscht Stoelting dem Terroir nach als Teil der naturgegebenen Faktoren, die etwa den Boden der Weinberge bestimmen. Die Beschaffenheit dieser Böden, die jeweilige Anbauweise und die typischen Gesteinsformationen ergeben in den Augen der Künstlerin ein jeweils charakteristisches Bild. Im Tafelbild porträtierte sie mit Naturstein, Erde, Pigment und Acrylfarbe die Böden der großen historischen Lagen im Burgund, der Pfalz und dem Rheingau, dessen Weine Goethe als Gast der Familie Brentano auskostete bis zur Neige.

Der Bildträger ist Holz. Um die Lagen möglichst naturnah und authentisch in ihrer mineralischen Zusammensetzung zu erfassen, hat Stoelting die spezifischen Gesteine gesammelt, zerkleinert und zermahlen. Das so erhaltene Steinpulver bindet sie mit Acryl. Die Werktitel lauten der jeweiligen Lage entsprechend Baiken oder Sancerre, die Werkgruppe nennt Stoelting Le Goût de la terre.

 

Im Wesentlichen blickt sie seit dem Beginn des Jahrtausends auf drei klar voneinander unterscheidbare Schaffensphasen. Die vom Menschen kultivierte Natur in Form von Forst oder Rebflächen ist ihr gemeinsamer Nenner. Die Werkreihen Le Goût de la Terre (2001 – 2008), die Rindenbilder (2008-2016) und Makrobilder (2016-2019) umfassen reliefhaft wirkende Bilder in Mischtechnik. Sie sind grundsätzlich auf Holz ausgeführt und haben Objektcharakter. Die adäquate Technik hat die Künstlerin um die Jahrtausendwende entwickelt und fortwährend verfeinert.

 

Die Rindenbilder bedeuteten den Beginn ihrer Wegstrecke als Baummeisterin. „Mythos und Kulturgeschichte des Baumes bilden den Hintergrund dieses Zyklus“, sagt Stoelting, „es sind idealtypische Strukturen herausgearbeitet, Baupläne der Natur, die - dem natürlichen Kontext entzogen - eine irritierende Eigenständigkeit und Abstraktion erzeugen.“10

Noch näher kommt sie dem Baum im aktuellen Werkkomplex Makrorinden. Sie stellt ihre Interpretationen von stark vergrößerten Ausschnitte aus Baumrinden, lebensnah nachempfunden, dem „natürlichen Kontext“ zur Seite. Es sind bildkünstlerische Cover-Versionen des Waldes, verstanden als Fortsetzung der Rindenbilder. Sie finden gleichfalls ihre Wurzeln in der Rundumbetrachtung des Baumes, unterscheiden sich jedoch von der früheren Werkgruppe deutlich durch stärkere Abstraktion. Extrapolation durch Reduktion ist das Vorgehensprinzip der Künstlerin. „Die Makroansichten auf spezifische Details verdeutlichen in dieser Vergrößerung einerseits die einzigartige Ästhetik der Rinden, doch verweisen sie gleichfalls auf verwandte Strukturen in gänzlich anderen stofflichen Zusammenhängen“, erklärt Stoelting, „Prägung und Erfahrung des Betrachters rufen höchst unterschiedliche Assoziationen hervor.“11

 

2017 und 2018 waren für die Künstlerin die Jahre der Birke (Betula), die schon zuvor Stoeltings besondere Aufmerksamkeit genoss, und Kiefer (Pinus). Das Schrundige, das weiße Grau und graue Weiß, die das Silbrige ins Spiel bringen, die zahlreichen Mehl- und Milchtöne, die mitunter fast filigrane Borke der Birke, die horizontal aufreißt, und ihre feine Maserung, sie stehen in markantem Kontrast zum Charakter der Kiefer mit ihrem mehr bräunlich-rötlichen Antlitz, dem eher massiven denn brüchig sensiblen papiernen Erscheinungsbild ihrer Rinde. Wächsern und nahezu imprägniert wirkt sie zuweilen in den Arbeiten Stoeltings im Gegensatz zur nuancenreichen und facettierten Grisaille der Birke, die ein sommergrünes Gehölz ist. Die Borke der Kiefer kann gefurcht oder glatt sein, in Platten unterteilt. Mit botanischer Empathie übersetzt Stoelting die Charakteristika von Rinde und Borke ins Tafelbild.

Die weiße Färbung der Birkenborke empfiehlt die Gattung zu dekorativen Zwecken beispielsweise in Alleen und als Maibaum zur Einläutung des Frühlings. Die Birke – als hellster Baum in Russlands Wäldern – beschäftigte daher insbesondere russische Landschafter wie Isaak Lewitan. Im Westen wandten sich Gustav Klimt, Otto Modersohn, Max Liebermann oder Karl Hagemeister der Birke in Gemälden zu: im großen Ganzen. Stoelting betrachtet ihre Besonderheiten aus größter Nähe. Die Schönheit der Bäume liegt für sie im Detail. Die stark vergrößerten Ausschnitte stehen nicht mehr länger für etwas - den Zauber einer Landschaft -, und nicht im Dienst der Verdeutlichung eines vorübergehenden Phänomens wie es der Einfall des Sonnenlichts ist oder die aufkommende Dämmerung. Sie werden auch nicht auf das Hervorrufen einer Stimmung getrimmt. Vielmehr stehen sie für sich selbst.

 

Insbesondere die jüngsten Werkzyklen Stoeltings kennzeichnen Arbeiten, die an Malerei des Informel und an den Duktus von Hans Arp erinnern. Strukturelle Parallelen hinsichtlich des Wechselspiels von Kontur, Linie, Binnenzeichnung und Fläche suggerieren mitunter ein formales Verwandtschaftsverhältnis. Doch das konstruktive Gerüst definieren bei Nina Stoelting nicht wolkige Ferne und Empfindung, keineswegs Eingebungen und Automatismen wie sie sich niederschlagen in der Ecriture automatique, sondern die langjährige unmittelbare Anschauung. Das gleichsam herangezoomte, jedoch im Atelier ohne fotografisches Protokoll memorierte Habitat und Schlüsselbiotop Wald erfasst sie dank ihrer engen Verbundenheit mit ihrem Motivschatz schöpferisch intuitiv.

Stoelting koppelt die sinnliche Wahrnehmung an empirische Erkenntnis mit dem Ergebnis verlässlich idealtypischer Annäherung an ihr zentrales Thema. Es führen tausend Wege in den Wald und der Pfad wachsender Erkenntnis daraus hinaus. Zu Fuß, zu Pferd erkundet ihn die Künstlerin ohne von ihrem Wege je abzukommen. Sie ist keine Vertreterin der Konzeptkunst und keine VR-Verführte. Immerzu verlangen ihre Arbeiten die unmittelbare Konfrontation mit dem (Wald-)Boden der Tatsachen. Mit dem Bauplan des Lebens, der „Übermacht der Natur“ und dem Ohnmachtsgefühl, das jene auslösen kann, setzt sich Stoelting auseinander wie mit dem archaisch Anderen. Sie geht Winter für Winter – bei einem Hüttenaufenthalt in Kärnten ohne Strom und gängige zivilisatorische Annehmlichkeiten - bis an die Baumgrenze, bückt sich selbst noch bei 15 Grad Kälte nach Gesteinsformationen für ihr „Großthema Strukturen“.

Doch sie ist keine Maria Sibylla Merian, überträgt Naturbeobachtungen nicht akribisch in ein „Studienbuch“, betätigt sich nicht als Naturforscherin im üblichen Sinne, geht nicht einer systematischen Betrachtung nach wie die Frankfurter Insektenwissenschaftlerin. Ihre winterlichen Sonderwege mit Merians Urwaldexkursionen um 1700 zu vergleichen, bietet sich nicht an. Das Gefälle der Entbehrungen ist groß, und doch ähneln sich die Absichten: nach draußen gehen, um zu schauen, zu staunen, Eindrücke und Formen der Vielfalt des Lebens zu sammeln - und um sich selbst zu finden.

Axel Hütte erforscht in Indianerbegleitung - ähnlich wie Merian - exotische Gefilde. Der Fotograf der Becher-Schule wies dem Motiv Baum einen festen Platz zu in seinem Oeuvre. Towards the woods lautet programmatisch der Titel einer Serie. Im Gegensatz zu Hütte aber ist Stoelting bei ihren Exkursionen allein. Und somit zurückgeworfen auf sich selbst.

 

Berlinde De Bruyckere verwendet fragmentierte Bäume in ihren Installationen als Gleichnis des Lebens. Die Bildhauerin fokussiert auf den anthropomorphen Charakter des Baumes. Nicht zuletzt in seiner Verletzlichkeit gleicht er dem Menschen. Diesem Aspekt gewährt auch Nina Stoelting Einlass in ihr Werk. Beide Künstlerinnen verbindet das Bedürfnis, sich den gewachsenen Strukturen mit einem ausgeprägten Realismus zu nähern, der die metaphorische Betrachtung provoziert.

 

Wenn De Bruyckere die Anatomin ist, ist Nina Stoelting die Chirurgin. Der von ihr gewählte Abbildungsmaßstab erlaubt Detailansichten. Stoeltings Makros lassen sich verstehen als Ergebnisse eines kontinuierlichen sukzessiven Klärungspozesses. Auf andere Art als die Belgierin arbeitet sie die Verankerung der menschlichen Existenz im Kontext von Fauna und Erdbeschaffenheit heraus.

 

Stoeltings organisch aufgefasste Makrobilder stehen in unmittelbarem Bezug zum menschlichen Individuum, den die Künstlerin immer dort mitdenkt, wo er sich einmal nicht sofort offenbaren mag. Sie unterstreicht „die Vielfältigkeit des Sichtbaren in einer Momentaufnahme der stets sich erneuernden Natur, die sich durch Wiederholung des ihr eigenen Prinzips der Vergänglichkeit widersetzt.“12 Die Illusion der Realität, die ihre Kunst erzeugt, spiegelt die spezifische Subjektivität. Gleichwohl heben sich die Makrorinden von früheren Arbeiten ab durch ihren außerordentlichen Abstraktionsgrad. Hat Stoelting seinerzeit noch stärker den Stamm im Blick gehabt, so kommt sie ihm nun konsequent nahe. Je kleiner der Naturausschnitt, dem sie sich zuwendet, desto spirituell stimulierender die Darstellung. Die Anschaulichkeit bleibt erhalten, das Assoziationsfeld wird philosophisch erweitert und zum geistigen Umschlagplatz. Die morphologische Sondierung wird nicht abgekoppelt vom ontologisch Manifesten und phänotypisch Wahrnehmbaren. Sie bilden gemeinsam das Bild.

Ein Baum lässt sich betrachten als verholzende Samenpflanze mit dominierender Sprossachse, sekundärem Dickenwachstum und reich verzweigten Seitentrieben. Aber auch als Ergebnis einer Metamorphose, an deren Beginn ein toll gewordener selbstherrlicher Harvey-Weinstein-artig agierender Olympier einer Bergnymphe oder – nach einer anderen Version – einer jungfräulichen Jägerin nachstellt. Daphne, solchermaßen in Bedrängnis geraten, erfährt in der griechischen Mythologie die Verwandlung in einen Lorbeerbaum, welcher dem Gott Apoll heilig werden wird und bei Richard Strauss zur Titelfigur einer bukolischen Tragödie in einem Akt.

 

Als Weltenbaum, Lebensbaum, Baum der Erkenntnis, Märchenmotiv und Glücksgarant, als Trostspender und Schicksalsbaum, als Schutzsymbol und Liebeslaube, Stammbaum, Christbaum, Mai- und Kerbebaum, Freiheitsbaum, Richtbaum, Opferbaum oder Galgenbaum (so der Titel des vorletzten Westerns von Gary Coopers) steht der Baum für (himmlische) Unsterblichkeit und (irdischen) Tod, Freude und Furcht, Wissen und Wandlung (in der alchemistischen Vorstellung), Glaube und Mysterium, Zerrissenheit wie auch Ganzheit, Geborgenheit und Zuversicht kurz: für die Komplexität menschlichens Strebens und eine imago mundi, ein Welt- und Sinnbild. Für einen Mikrokosmos, dessen Makro-Strukturen Nina Stoelting künstlerisch adäquat begegnet.

Der Baum ist „Abbild sicheren Glückes“13 (René Magritte) und eine kollektive Projektionsfläche für die Spezies Mensch. Diese steht aufrecht wie ihr liebstes Symbol, sieht im Baum das Gleichnis ihrer selbst. Nur kippt der Mensch leichter um. Selbst wenn er als geerdet, bodenständig oder als an einer bestimmten Stelle verwurzelt angesehen wird, so fehlt ihm doch die Verankerung, die ihn fest hält.

Eine neue Werkgruppe Stoeltings aus dem vergangenen Jahr bedient sich der Frottage. Mit der Technik des Durchreibens nahm die Künstlerin im Sommer 2018 im Rahmen eines Artist-in-Residence-Programms „Abbilder von identitätsstiftenden Orten der Stadt Berlin“. Stoelting schuf in Graphit auf Musselin den Bilderzyklus X Quadratmeter von Berlin mit der Siegessäule, Gedächtniskirche, der Mauer, dem Holocaust Mahnmal, um schließlich mit hrem nach der berühmten Straße benannten Werk Unter den Linden wieder anzukommen bei ihrem originären Sujet, Bäumen: dem sicheren Glück.

 

Dorothee Baer-Bogenschütz

(gekürtze Fassung)

 

 

 

1 Zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Natur_(Essay)

2 Ebd.

3 Sibylle Selbmann, Der Baum: Symbol und Schicksal des Menschen, Karlsruhe 1984, S. 56

4 Zitiert nach Sibylle Selbmann, Der Baum: Symbol und Schicksal des Menschen, Karlsruhe 1984, S. 62

5 Ebd.

6 - 12 Nina Stoelting im Gespräch mit der Autorin

13 Zitiert nach Sibylle Selbmann, Der Baum: Symbol und Schicksal des Menschen, Karlsruhe 1984, S. 77